Was ist ein Volksmärchen 2. Teil

Zum Ursprung der Märchen

In den Märchen der Völker begegnen uns Texte, die eine sehr lange mündliche Erzähltradition hinter sich haben. Die ältesten Textschichten stammen noch aus matriarchalen, animistischen, totemistischen und schamanistischen Zeiten. Das Leben in seinen unterschiedlichen Ausprägungen als Steine, Pflanzen, Tiere und Menschen wurde noch als eine lebendige Einheit gesehen und erlebt. Ein existenzielles hin und her Wandern zwischen den verschiedenen Daseinsformen war nichts Ungewöhnliches , weil verbunden.

Spätere Zeiten haben dann andere spirituelle Ausprägungen darübergelegt, speziell die matriarchalen Göttinnensymbole verändert und sich die Texte so zu eigen gemacht. Bis zuletzt z. B. die Gebrüder Grimm die mündlichen Erzählungen, die sie vorfanden umgeformt und der Zeit entsprechend gestaltet haben. Sie und andere Dichter und Sammler der Romantik haben die Texte eben auch schriftlich fixiert und umgeschrieben.

Grundmotive

Interessant ist auch, dass in verschiedenen Ländern ähnliche bis gleiche Grundmotive zu finden sind. Etwa von drei Söhnen findet der jüngste, der gleichzeitig der unbedarfteste und dümmste ist, durch Offenheit und Barmherzigkeit den Weg zur Erfüllung. Er erfährt dabei Hilfe, ohne die er sein Problem nicht lösen könnte. Oder dass immer wieder ein Motiv auftaucht, dass dem „Helden, der Heldin“ etwas anvertraut ist, das nicht „geöffnet“ werden darf und dennoch immer das Verbot überschritten wird, immer, denn sonst könnte die Entwicklung gar nicht weiter gehen. Sogar in der zweiten Schöpfungsgeschichte die Sache mit dem verbotenen Baum der Erkenntnis von Gut und Böse: ohne das Essen des Apfels wäre die Geschichte der Menschheit nicht ins Rollen gekommen.

Historisch-kritische Untersuchung der Texte

Die historisch-kritische Forschung unterscheidet die unterschiedliche Textschichten und macht uns so aufmerksam auf die Entstehungsgeschichte der Märchen und Legenden, Sagen und biblischen Geschichten. Dort wo es möglich ist beeindruckt der Vergleich unterschiedlicher Stadien eines Textes. Er lässt so Rückschlüsse zu auf verschiedene Zeiten und Intentionen, für die ein Text eingesetzt werden sollte und was verändert, also entfernt und/oder zugefügt wurde. Die Texte sind viele tausend Jahre nur mündlich tradiert worden, weitergereicht von Generation zu Generation.

Tiefenpsychologie

Viele Tiefenpsychologen haben sich mit den Märchen beschäftigt, zum Teil konnten interessante Zugänge geschaffen werden, etwa bei Eugen Drewermann. Besonders C. G. Jung hat mit seiner Archetypenlehre und der Frage nach dem sogenannten kollektiven Unbewussten Märchen und ihre Symbolik neu ins Licht gerückt. Achtsamkeit ist allerdings geboten, dass nicht durch Überinterpretation der historische Zusammenhang übersehen wird.

Mir scheint wichtig, dass trotz Beschäftigung mit der wissenschaftlichen Herangehensweise nicht das Staunen und das Geschenk der Texte verloren geht. Erzählungen, die an mich, an uns Heutige eine Botschaft haben und in ihrer Symbolik tiefe Bewusstseinsschichten ansprechen, ähnlich wie Träume und Mythen. Dadurch besitzen sie eine tiefe Heilkraft und laden ein, uns berühren und mitnehmen zu lassen: es können sich Türen und Fenster öffnen für Entwicklungen in unserem Leben. Besonders kann die erlauschte Geschichte uns entführen aus der Welt des nur Kausalen in ein kindliches Staunen.
Jesu Ausspruch, wenn ihr nicht werdet wie die Kinder könnt ihr nicht ins Himmelreich eintreten, meint genau diesen Zusammenhang. „Himmelreich“ bedeutet hier einfach die allumfassende kindliche, königliche, göttliche Sicht auf mein Menschsein und Leben.

Ge-schicht-e

Diese empirische Art an die Texte heranzugehen schließt nicht aus, die verschiedenen Schichten eines vorliegenden Textes als verschiedene Schichten wahr sein zu lassen, das Wort „Geschichte“ deutet diesen Zusammenhang ja schon an, und der Zuhörer und die Zuhörerin bzw. Leser/Leserin wird aufgefordert im Fluss des Textes die Bewusstseinsebenen zu wechseln. Dann wird es spannend, wie das Leben eben ist bzw. sein kann.

Er-zählen

Spannend zu erforschen wäre auch, was beim Erzählen „gezählt“ wird. In alten Sprachen, z. B. dem Hebräischen, hat jeder Buchstabe auch einen Zahlenwert und damit jedes Wort; diese Zahlensymbolik hat nun wiederum tief gehende Bedeutung und macht jenseits der „offenbaren Textstruktur“ Aussagen von verborgener Bedeutung. Friedrich Weinreb (1910-1988) hat dieses Thema ausführlich erforscht (Friedrich Weinreb, Buchstaben des Lebens).

In der deutschen Sprache gibt es auch Anklänge an tiefere Bedeutungsspuren, z. B. das Wort „Berg“, es beinhaltet offenbar, dass etwas „verborgen“ ist oder dass man etwas nur „erfahren“ kann, wenn man sich auf eine „Fahrt“ begibt. „Verstehen“ kann man nur etwas zu dem man „steht“, das man durchgestanden hat. Es gibt weitere Beispiele.

Immer wieder taucht GOLD in Märchen auf, meist ist dies verborgen und kann nur durch Staunen und Offenheit für das Innere ent-deckt und geborgen werden (Mehr zum GOLD in Teil III). So ent-faltet sich mein Menschsein inmitten der Gemeinschaft des vielfältigen Lebens, des „märchenhaften“ Lebens.

Weitere Teile folgen.

© 2017 Clemens Walter-Kremer