Märchen und Geschichten als Balancierhilfe

Märchen als Balancierhilfe? Was soll das denn bedeuten?  Kinder lieben es sich Balanciermöglichkeiten zu suchen, sei das eine Bordsteinkante, ein Vorgartenmäuerchen oder Ähnliches. Das gleiche gilt für den seelischen Bereich, auch hier suchen sich Kinder Balancierhilfen. Dies gilt besonders, wenn sie sich bedrängt fühlen, z.B. durch Eltern oder andere Bezugspersonen, die sehr unter Spannung stehen, gar noch gegeneinander oder weil sie traumatisiert sind. Um nicht in einen seelischen Abgrund zu stürzen muss man zwischen den Abgründen balancieren.

Kindsein in der 60er Jahren

Ich selbst habe als Kind in den 60er Jahren die starken Spannungen der Erwachsenen in meiner Heimatstadt gespürt, besonders die meiner Eltern. Andere Bezugspersonen waren Nachbarn, Pfarrer und Lehrer*innen. Der zweite Weltkrieg war ja mal gerade 12 Jahre vorbei. Bei mir zu Hause gab es viele Spannungen, beide Eltern hatten als Kinder und Jugendliche Nazizeit und Bombardierungen erlebt. Ebenso war das Verhältnis zum Großvater väterlicherseits im Haus sehr belastend. Es gab einerseits besonders durch meinen Vater ausführliche Schilderungen seiner Kriegserlebnisse. Er erzählte dies auch schon mir und meinen Geschwistern als kleinen Kindern. Andererseits gab es ein bedrückendes Schweigen über das schwierige Verhältnis zum Großvater.

Märchen und Geschichten

Ich habe dann die abendlichen Märchenvorlesungen meiner Mutter sehr genossen und etwas später die ausgedachten und frei erzählten Märchen und Geschichten meines Vaters. So wollte er uns in der Mittagspause zu Ruhe bringen, damit meine Mutter schlafen konnte. Diese Geschichten – einmal der Brüder Grimm durch meine Mutter und zum andern die (Nach-)Erzählungen meines Vaters – habe ich als Hilfe erlebt, um zwischen den unbewußt gespürten Abgründen zu überleben, wie ein Geländer. Ein früherer Versuch meines Vaters uns zur Ruhe zu bringen waren Stockschläge, das Brennen auf der Hinternhaut kann ich heute noch nachempfinden. Gottseidank kam ihm die Alternative mit den Geschichten, die im übrigen auch viel wirkungsvoller war.

Balancieren stärkt

Im Nachhinein empfinde ich die Märchen und Geschichten von damals als große Ermutigung, immer wieder aufzustehen und weiterzugehen, den eigenen Weg mutig – mit Hilfe bei Bedarf –  unter die Füße zu nehmen. Balancieren müssen stärkt das Gleichgewichtsempfinden und das brauchen wir so dringend im körperlichen wie im seelischen Bereich. Das Leben ist wohl immer ein Balanceakt und besonders in Zeiten, die Menschen so traumatisiert hinterlässt, dass mehrere Genarationen daran zu knabbern haben.

Märchen sind oft Geschichten, die von Traumatisierungen und deren Heilung handeln, durch Scheitern hindurch. Sie benutzen Bilder, ähnlich wie Träume, in denen ja auch das Erlebte bearbeitet wird. Insofern kann ich sagen, ja, die gehörten Märchen und Geschichten waren für mich eine Balancierhilfe. Und später habe ich in unserer Lebensgemeinschaft einen Betrieb mit aufgebaut, in dem wir Holzbewegungsmaterialien zum Balancieren herstellen und vertreiben (Basisgemeinde Wulfshagenerhütten eG).

Bewegungsstunde mit Hengstenberg-Material

 

Neulich schrieb ich ein Gedicht, in dem dieses Thema, Märchen und Geschichten als Balancierhilfe, vorkommt, es sei hier zitiert:

 

Ich, Mauerläufer

balanciere zwischen Ab-gründen,

immer hart am Stürzen vorbei –

Stürzen ins Bodenlose

mit Aufprall!

Stürzen ins bodenlose

Schweigen über das Geschehene zur einen Seite,

Stürzen ins bodenlose

Vibrieren der Kriegs- und Nazigeschichten, übergriff-artig, zur anderen Seite –

über Geschichten über Geschichten:

 

Märchen, bekannt und erfunden,

gereicht als Balancierhilfe um

über die Mauern jagen und rennen zu können,

einsam, zu zweit oder in wilden

Verfolgungsjagden, ausgesetzt

bösen Blicken Erwachsener, hier wie da, dem Krieg

Entkommene, kalt oder heiß,

giftig oder einfach verzweifelt, verschüttet –

Hausmeister mit langer Schaufel

langt nach oben, fängt er uns?

Wer fängt uns auf?

Balancieren, Klettern, Springen –

unten im Abgrund lodert die Angst, die

Beklemmung –

hinter dem Abgrund die Freiheit, geheim,

mit langem, (wage)mutigem Sprung zu erreichen.

Da, im Bauch, in der Mitte,

sitzt der Mut, das Vorwärts-streben, aber

auch die Angst.

Abschied

wenn die Laternen angehen, so war es ausgemacht –

die Abgründe, das Balancieren müssen – bleiben –

ein Leben lang. (5.21)

 

Abschließend möchte ich Sie und Euch ermutigen eifrig Gebrauch von Märchen zu machen, sei es vorlesend Euch und Euren Kindern, sei es frei (nach-)erzählt. Sie sind ein großes Geschenk unserer Vor-Vorfahren und ihrer Lebensweisheit und sollten weitergereicht werden. Sie wollen die Hoffnung nähren, dass das Projekt Menschheit und überhaupt das Leben auf der Erde nicht zu Ende ist, immer wieder neu geboren wird.

Auch Tiere müssen balancieren lernen. Hier noch zur Entspannung und Unterhaltung ein kurzes Video über Wildkatzenkinder: