Wir erzählen alle Geschichten und zensieren die Vergangenheit in unseren Erinnerungen so, dass wir damit leben können. Kann ich meinen Erinnerungen trauen? Märchen sind kollektive Erinnerungen an durchgestandene Krisen. Sie entführen uns sanft und berühren uns in größeren Tiefen. Dort erreichen sie uns und ermöglichen ein tiefes Erkennen, das mit Staunen und sich Wundern einhergeht.
„Erzähl mir keine Märchen“
Dies war eine Ausspruch im Zeichen der Aufklärung. Er meinte, dass nur die erkennbaren „Realitäten“ Bedeutung haben. Alles andere sei „Kinderkram“, auf jeden Fall etwas eher Schrulliges und für Kinder sowieso nicht zu empfehlen. Heute wissen wir um die tiefe Bedeutung solcher Geschichten. Sie verbinden uns sowohl mit unserem Inneren als auch mit der ganzen Menschheit. Solche Geschichten werden schon seit Jahrtausenden erzählt und weitererzählt.
Zum Staunen und Wundern
Wir müssen nicht tiefenpsychologisch analysieren, wieso uns etwas berührt hat (wir können es aber). Dürfen jedoch betrachten, uns nahe gehen lassen, nacherzählen, malen usw., was uns erinnerlich ist. Und davon ausgehen, dass sich Leben erneuert hat und Wunden heilen konnten. Obendrein wurden wir wunderbar unterhalten, konnten uns entspannen, staunen und lachen.
Interessant ist, dass in allen Kulturkreisen Märchen erzählt wurden. Bestimmte Bilder und Abläufe kommen überall vor, variierend je nach Lebenszusammenhang, Umwelt und Klima.
In den folgenden Videos möchte ich zwei weitere Märchen aus dem Baltikum erzählen, ähnlich wie in dem vorangegangenem Video. Viele Motive sind aus Grimm´schen Märchen bekannt, aber in ihrer Kombination bieten sie einen Reiz, der die Zuhörer aufhorchen lässt.
Der Bär als Schwiegersohn, baltisches Märchen
Wer kennt nicht „dickfellige Menschen? Wer kennt nicht dünnhäutige Spürer?
Wie das Zusammenleben sich gestalten kann, was es dazu braucht und wie man aufeinander zu wachsen kann, ja sogar erlösend sein kann, schildert das erste Märchen „Der Bär als Schwiegersohn“ aus Lettland in drastischen, anschaulichen Bildern:
Kurze Märchenbetrachtung (von Petra Kremer)
Wer will schon einen Bären als Schwiegersohn? Manchmal ist es aber gut, dem zu vertrauen, was halt jetzt gerade auf meinem Weg ist, damit ich wieder „heim“ finde. Ich muß mich mit dem Unausweichlichen, in dem Fall dem „Bären“ konfrontieren. Dabei kann ich auch die Stärken entdecken: Der Bär ist gutmütig, stark, versorgend. Ist das nicht auch schon was? Dem kann man sein Liebstes, die Tochter doch anvertrauen?
Die Tochter ist zuversichtlich, fröhlich und vertrauend. Ohne Vorurteile begibt sie sich in das Fremde hinein, die Beziehung mit einem „Bären“, bereit ihn zu lieben, so wie er ist.
Sie hat aber auch Augen für das, was unter dem dicken Fell hervorblitzt. Und beobachtet dass in schützender Dunkelheit unter dem dicken Fell ein schöner Mensch zum Vorschein kommt.
Noch ein Märchen aus Lettland
Im zweiten Video: „Der Baron und der Hirt“, wird erzählt, dass ein einfacher Viehhütejunge seinem Gutsherrn gegenüber mit kreativen Ideen durchaus überlegen ist. Viel Vergnügen. Und eine gute Zeit bis zum nächsten mal.
Euer Märchenerzähler Clemens Kremer
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